Dieser Kommentar bezieht sich auf das Interview mit Emmanuel Todd, das unter dem Titel „Deutschland sollte sich um eine Brics-Mitgliedschaft bewerben“ erschienen ist.

Nachdem Oswald Spengler mit seinem gleichnamigen Werk vor über 100 Jahren den Untergang des Abendlandes verkündete, erlebt diese Erzählung permanente Hochkonjunktur. Freilich musste Spengler die Erzählung vom endgültigen Untergang des Abendlandes (oder modern gesprochen: des Westens) nicht erfinden, denn diese Märe existierte lange vor Spengler und war ab der Jahrhundertwende, jedenfalls mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, aus den europäischen Kultursalons nicht mehr wegzudenken.

Der permanenten Hochkonjunktur zum Trotz entpuppten sich die Rufe nach dem endgültigen Untergang des Westens seit über einem Jahrhundert als verfrüht, abklingen mögen diese schallend atonalen Kassandrarufe aber bis heute nicht. Emmanuel Todd, einer der renommiertesten Historiker und Anthropologen Frankreichs, schrieb mit seinem Buch „Der Westen im Niedergang“ das jüngste Kapitel der antiwestlichen Unkenrufe und positionierte sich damit endgültig als Oswald Spengler des 21. Jahrhunderts. Am 22. Oktober 2024 erschien in der Berliner Zeitung ein spannendes Gespräch mit Emmanuel Todd.

Der Niedergang des Westens

Den Niedergang des Westens verortet Emmanuel Todd im Abstieg der Vereinigten Staaten und insbesondere in den seines Erachtens inadäquaten Antworten auf die aktuellen geopolitischen Fragen durch den Westen. Die Wahlen in den USA werden zwar in Europa als schicksalhaft für die Zukunft der freien Welt betrachtet, jedoch seien sowohl Donald Trump als auch Kamala Harris für Europa gleichermaßen schlecht, zeigt sich Todd überzeugt.

Den Krieg in der Ukraine habe der Westen jedenfalls verloren und werde die kommende Neuordnung der Welt nicht federführend mitgestalten. Vielmehr werde die Bedeutung neuer Akteure wie der Brics-Staaten zunehmen. Denn ungeachtet ihrer Heterogenität habe der Ukrainekrieg die Brics-Staaten einander nähergebracht. Ungeachtet der westlichen Pläne zur Isolation Russlands lehne international eine Mehrheit der Staaten diesen Kurs ab. Die Brics-Staatengruppe habe sich als eine Art Gegenpol zum Westen herausgebildet und spiele im globalen Süden eine starke Rolle. Mit der westlichen Niederlage im Ukrainekrieg seien die Pläne des Westens ins Gegenteil verkehrt worden.

Panzer, die präsentiert werden bei der Firma Rheinmetall.

Panzer, die präsentiert werden bei der Firma Rheinmetall.Julian Stratenschulte/dpa

Deutschland als Mitglied der Brics-Gruppe?

Auch wenn einige von Todds Gedankengängen wie gewohnt provokant-anregend erscheinen, erweisen sich wiederum andere als eindimensional und substanzlos. So behauptet Todd beispielsweise, dass der Einheit des Westens eine Fiktion zugrunde liege. Schließlich existiere ein gemeinsames Fundament des Westens im kulturellen Sinne nicht, dem stehe allein schon die Vielfalt Europas entgegen. Der Westen sei in Wahrheit nur ein Synonym für den amerikanischen Herrschaftsbereich und damit für die Nato. Der Rat des Historikers: Europäische Staaten, nicht zuletzt auch Deutschland, sollten mit ihren industriepolitischen Ambitionen der aufstrebenden Brics-Gruppe beitreten.

Ob absichtlich oder nicht vermischt Todd die Analyseebenen miteinander. Die angebliche kulturelle Fiktion des westlichen Bündnisses wird für Todd zur Grundlage einer wirtschafts- und sicherheitspolitischen Beurteilung. Dass zur Beurteilung der industrie- und handelspolitischen Ambitionen Berlins die Analyse deutscher Handelsbeziehungen sinnvoll wäre, übersieht Todd geflissentlich. Letzteres wäre aber durchaus empfehlenswert. Denn in der Top 20 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands des Jahres 2023 scheint mit China lediglich ein einziges Mitglied der Brics-Gruppe auf. Auf den Handel mit China wird aber ein etwaiger Brics-Beitrittsantrag Deutschlands keinerlei nennenswerte Auswirkung haben.

Deutschland ist nicht von den USA besetzt

Seltsamerweise widerspricht sich Todd innerhalb kürzester Zeit. So behauptet er, dass die Brics-Gruppe auch aufgrund unterschiedlicher politischer Systeme sehr heterogen sei. Über die kaum überwindbaren Unterschiede in der kulturellen Struktur der Brics-Staaten spricht Todd rein gar nicht. Lediglich der Ukrainekrieg habe die Brics-Staaten zusammengebracht, sagt Todd. Doch hindern die zahlreichen Unterschiede angesichts des doch äußerst kleinen gemeinsamen Nenners nach Ansicht Todds eine Zusammenarbeit zwischen den Brics-Staaten nicht. Warum Todd eine derartige Schlussfolgerung zieht, bleibt unverständlich. Umgekehrt spart er aus, dass die westlichen Staaten eine Ähnlichkeit in den politischen Systemen aufweisen, eine ähnliche Lesart des Ukrainekrieges, die geographische Nähe, die engen wirtschafts- und industriepolitischen Verwebungen, die jahrzehntelange sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der Nato und die gemeinsamen Werte – alles verbindende Elemente.

Das Argument, Deutschland sei „ein besetztes Land“ und „außenpolitisch von den USA abhängig“, bringt einen zum Schmunzeln. Denn seltsamerweise konnte das „außenpolitisch handlungsunfähige“, „besetzte Deutschland“ beispielsweise die Teilnahme am US-Einsatz gegen den Irak 2003 verweigern, einen von der damaligen US-Administration angestrebten Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens 2008 problemlos verhindern und die Energiezusammenarbeit mit Russland gegen die ausdrücklichen Warnungen Washingtons ungehindert ausbauen.

US-Präsident George W.Bush (l) und Bundeskanzler Gerhard Schröder reichen sich am Mittwoch (23.02.2005) in Mainz nach der Pressekonferenz die Hände. Schröder wollte nicht in den Irak-Krieg ziehen.

US-Präsident George W.Bush (l) und Bundeskanzler Gerhard Schröder reichen sich am Mittwoch (23.02.2005) in Mainz nach der Pressekonferenz die Hände. Schröder wollte nicht in den Irak-Krieg ziehen.Andreas Altwein dpa/lrs

Russland konnte nicht besiegt werden, sagt Todd

Nach diesen Ausführungen vermag es nicht mehr zu überraschen, dass Emmanuel Todd den Niedergang des Westens als eine Grundbedingung für eine friedliche Welt sieht. Denn der Krieg in Europa sei von den USA provoziert worden. Russland sei ein europäisches Land und die USA müssten lediglich aufhören, einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben. Der Frieden zwischen den europäischen Nationen sei zudem etwas Selbstverständliches. Wie Todds vernichtende Kritik am Westen nahtlos in den Satz „Russland ist nicht weniger westlich als Deutschland“ gipfeln kann, ist absolut nicht nachvollziehbar.

Mehr noch: Die Ausführungen Emmanuel Todds zur Ukraine und den Gründen für den Ukrainekrieg sind absolut irreführend. Nach Überzeugung Todds sei der Euromaidan 2014 eine Falle gewesen und in diese tappte der Westen hinein. Wer der angebliche Fallensteller war, möchte Todd allerdings nicht verraten.

Nunmehr folgt eine lose Anhäufung pro-russischer Narrative über den Euromaidan. Das westliche Handeln habe die Ukrainer radikalisiert und provozierte 2022 den russischen Einmarsch, meint Todd. Dabei hält er offenbar für verzichtbar, sowohl die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim als auch das bewusste Auslösen der Kampfhandlungen im Donbas im Frühjahr 2014 durch Russland zu erwähnen. Stattdessen phantasiert Todd über einen – wörtlich – „völlig verrückten Traum“ des Westens, die Ukraine ab Februar 2022 zu bewaffnen und in Russland einen Regimewechsel einzuleiten. Worauf diese Überzeugungen gründen, erklärt Emmanuel Todd nicht. Der Ukrainekrieg sei nach Meinung Todds bereits zu Ende und stellte einen Realitätstest für die amerikanische Macht dar. Washington habe diesen Realitätstest allerdings nicht bestanden. Denn ungeachtet von Milliarden-Unterstützung für die Ukraine konnte Russland nicht besiegt werden.

Reflexartiger Antiamerikanismus

Erstaunlich realistisch und treffsicher erweisen sich hingegen Todds Überlegungen zu russischen Kriegszielen. Diese würden in der Einnahme des linken Dnipro-Ufers sowie der Stadt Odessa und damit logischerweise der gesamten Schwarzmeerküste bestehen. Vor allem aber möchte Moskau in Kyjiw eine Marionettenregierung installieren. Bis dahin seien Friedensverhandlungen unrealistisch, da der Kreml dem Westen nicht vertraue. Unmittelbar darauf bezeichnet Todd die Gefahr eines russischen Angriffes auf Europa als Teil eines paranoiden westlichen Wahns.

Die zahlreichen destruktiven Verhaltensweisen gegen den Westen, Auftragsmorde auf europäischen Straßen, Beeinflussung der demokratischen Willensbildungsprozesse, Cyberangriffe und hybride Kriegsmaßnahmen Russlands sieht Todd nur zu offensichtlich nicht als eine Gefahr für den Westen. Emmanuel Todds eigenwilliger Umgang mit Fakten wirft eine ganze Menge Fragen auf, so nicht zuletzt hinsichtlich seiner Informationsquellen. Hinter einem großen Namen und dem jahrelang erarbeiteten wissenschaftlichen Renommee verbirgt sich reflexartiger Antiamerikanismus.

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