Es war ein kurzer medialer Aufreger. Die Stiftung Humboldt Forum in Berlin möchte nicht, dass im Rahmen von zwei Auftritten von mehreren Chören das Wort „Oberindianer“ in dem Song „Sonderzug nach Pankow“ von Udo Lindenberg erklingt, weil es als diskriminierend wahrgenommen werden könnte.
Alle Zutaten standen bereit und warteten darauf, in die übliche polarisierende Suppe geworfen zu werden: Handelt es sich um einen Großangriff auf deutsche Selbstverständlichkeiten und Kulturgut? Was darf man noch sagen? Ist es ein berechtigtes Anliegen, das auf Diskriminierung hinweist oder der Auftakt zur Meinungsdiktatur? Doch so richtig durchstarten wollte das Thema am Ende nicht, und es blieb, trotz breiter, in der Regel wertneutraler, medialer Erwähnung, eine Randnotiz, die kaum ein größeres Interesse nach sich zog. Doch warum kein Sturm, sondern nur ein laues Lüftchen?
Die Ursache liegt viel tiefer und wirkt für unsere Gesellschaft auch weitaus bedeutender, als es auf den ersten Blick erscheint. Eine dominierende Denkrichtung hat an Kraft verloren, und das immer mehr auftretende Vakuum wurde bislang nicht gefüllt. Doch beginnen wir von vorne.
Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Siegeszug der kulturell bedingten Moral?
Viele Jahre haben postmaterielle Inhalte – sie werden gleich präzisiert – eine herausragende Rolle in der allgemeinen Diskussionskultur eingenommen. Von der Migrationsdebatte über die Klimakrise bis zur Identitätspolitik: Über ein Jahrzehnt bestimmten diese Vorstellungen, als jene immateriellen Ziele wie Umweltbewusstsein, individuelle Selbstverwirklichung, weltweite Gerechtigkeit, Anti-Kolonialismus, genderbewusste Sprache, humanistischer Internationalismus, die moralische Verpflichtung des globalen Nordens gegenüber dem Süden, grenzbefreites Weltbürgertum oder ethische Schwerpunktsetzungen den politischen und medialen Diskurs.
Es war, oberflächlich betrachtet, ein Siegeszug der kulturellen Moral oder besser – das Wort hat auch einen Plural – der kulturellen Moralen, denn während sich wohl niemand gegen „Gerechtigkeit“ sowie „Klimaschutz“ als allgemeine Norm erwehren wird, ist es durchaus umstritten, ob beispielsweise „offene Grenzen“ auf die gleiche Ebene gehoben werden dürfen. Simplifiziert handelt es sich um einen Mix aus allgemeinen Werten und deren spezifischen, kulturbezogenen Ableitungen, die aber als gleichwertig- und rangig betrachtet werden.
Von den Universitäten in die Gesellschaft
Die Erfolgsgeschichte besagter postmaterieller Erzählung begann irgendwann Anfang der 90er-Jahre. Das freiheitlich-demokratische System westlicher Prägung hatte sich durchgesetzt, und man wähnte sich am Ende der Geschichte. Eine gut gemeinte Fehldeutung, der sich das Herz und das Gefühl gerne anschließen würden. Nur der Verstand ahnte immer, dass unter Umständen eine überlegene Militär- sowie Wirtschaftsmacht und das Versprechen auf Wohlstand vielleicht doch eine relevantere Rolle einnahmen als Werte.
Es entstanden intellektuelle Leerstellen. Der Kalte Krieg war so gut wie vorbei, und an den Universitäten wurden, vereinfacht ausgedrückt, Dekonstruktionen – jenes Hinterfragen der Normalität, das sowohl eine zersetzende als auch eine befreiende Konsequenz zugleich haben kann – massiv intensiviert.
Die Ergebnisse dieser Denkprozesse, manche bahnbrechend klug, andere skurril irritierend, sickerten langsam in die Köpfe der Studenten, die diese wiederum mit in ihre beruflichen Laufbahnen nahmen. Nicht bei allen und auch nicht in jeder Fachrichtung, aber dennoch bei einer ausreichenden Anzahl.
Spätestens in den 2010er-Jahren hatte die neue Elite auch Spitzenpositionen in Medien, Politik und Lobbyverbänden inne und mit ihnen natürlich auch ihre Überzeugungen. Wen kann es da verwundern, dass beispielsweise Journalisten in einer aktuellen Studie angeben, dass sie zu 41 % die Grünen, zu 16 % die SPD und zu 6 % die Linke wählen würden?
Politik übernimmt teilweise postmaterielle Erzählungen
Und damit wären wir bei der Politik angekommen. Auch dieser Welt blieb die postmaterielle Welle nicht verborgen. In den USA konnte man sie bereits Mitte der 2000er-Jahre nicht mehr übersehen, und genau deswegen war sie bereits frühzeitig Teil der Politikberatung in Deutschland. Noch bevor sie überhaupt von der Allgemeinheit ernst genommen wurde, erschien es den politisch Verantwortlichen nicht selten logisch, dass dort eine Kraft entstanden war, die das Potenzial hatte, die Denkmuster der Bevölkerung grundsätzlich zu verändern.
Das ist zweifelsfrei auch geschehen. Die deutsche Gesellschaft wandelte sich, und neue Lebenswirklichkeiten mit abweichenden Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben entstanden. Eine herausragende Stellung nimmt dabei das postmaterielle Milieu (ca. 12 % der Bevölkerung) ein, also jene Mitbürger, die materiell abgesichert sind und sich nun der persönlichen Selbstentfaltung und den großen Herausforderungen unserer Zeit widmen können. Es war absehbar, dass diese spezielle Lebenswirklichkeit, die zudem über ein großes Sendungsbewusstsein verfügt, einen hohen Einfluss auf die restliche Bevölkerung nehmen würde. Durch Hinweise auf den richtigen Weg oder kompromisslose Erziehung? Es kommt auf den Blickwinkel an.
Damit Parteien wie die Grünen nicht noch mehr von diesen Verschiebungen der gesellschaftlichen Prioritäten, die von den Medien sehr wohlwollend begleitet wurden, profitierten, verschoben sich erst die linken Parteien in die postmaterielle Richtung und letztendlich auch liberale und konservative Organisationen. Manchmal bewusst, gelegentlich auch indirekt durch eine Veränderung der Mitgliederstruktur.
Postmaterielle Vorstellungen dominieren
Die Grenzöffnungen Mitte der 2010er-Jahre, um ein Beispiel zu nehmen, die mit dem Primat der Moral begründet wurden, geschahen daher weniger aus Überzeugung, sondern unter anderem auch aus dem taktischen Kalkül heraus, dass die postmaterielle Denkrichtung auf Dauer dominant sein würde und jeder Widerstand nur zu Stimmverlusten führen könnte.
Und hatten sie Unrecht? Tatsache ist, dass die Regierung Merkel 2017 bestätigt und 2021 eine gewählt wurde, die überwiegend aus Parteien mit postmateriellen Neigungen bestand. Zwischendrin löste die Klimabewegung einen großen Hype aus, und alle Prognosen schienen sich zu bestätigen. Neue Lebenswirklichkeiten wie das sehr junge sozial-ökologische Milieu (ca. 8 % der Bevölkerung) entstanden, die bürgerliche Mitte schien sich für die richtige Seite zu entscheiden, und die Konservativen hielten still oder wurden an den Rand gedrängt. Zwar war in den USA spätestens ab 2016 eine Trendwende ersichtlich, aber eben nicht in Deutschland, wo der Gipfel noch gar nicht in Sicht zukommen schien.
Ein Scheitern an der Realität
Doch dann kam die Realität, und es zeigte sich mehr und mehr, dass sich Ideale oft sehr schwierig in die Praxis umsetzen lassen, insbesondere wenn es sich – man denke hier nur an die Migrationsfrage oder die sozial-ökologische Transformation – auch noch um umstrittene handelt.
Alles Politische rechtfertigt sich letztendlich nur aus dem Erfolg heraus. Ein womöglich bitterer, aber dennoch wahrer Satz. Dieser Erfolg blieb schlicht aus, und spätestens ab etwa 2020 begann daher ein langsamer Rückgang der postmateriellen Dominanz in Deutschland, die kurz zuvor erst mit Fridays for Future und teilweise über 26 Prozent in Umfragen für die Grünen ihren absoluten Höhepunkt erlebte.
Hauptgrund war, dass in sehr vielen Milieus die Grundbedürfnisse, seien sie materieller oder immaterieller Natur, unbefriedigt blieben oder gar marginalisiert wurden. Teilweise wurden die Wertvorstellungen oder Lebensweisen der jeweiligen Gruppierungen selbst infrage gestellt, ohne jedoch entsprechende Alternativen zu bieten.
Weltgerechtigkeit löst die soziale Frage in Deutschland nicht. Die Transformation der Wirtschaft ist bislang gescheitert. Das angestrebte Postwachstum, für viele Kritiker nur eine Umschreibung für Deindustrialisierung, und eine florierende soziale Marktwirtschaft sind Widersprüche. Sicherheit und Normalität sollten niemals unterschätzt werden. Ja, man kann es beklagen, aber die Wirklichkeit folgt selten einem Ideal.
Dies führte zuerst zu Milieukonflikten, dann zu Milieukämpfen und schließlich zu brüchigen Milieukoalitionen unterschiedlichster Lebenswirklichkeiten, die sich schließlich gegen die postmaterielle Vorherrschaft richteten. Möchte man ein praktisches Beispiel dafür benennen, so soll auf die Ampel-Politik verwiesen werden, die es schaffte, zahlreiche Milieus in Deutschland gegen sich aufzubringen, die unter normalen Umständen keine Gemeinsamkeiten hätten. Mit einem derartigen Mechanismus werden auch Protest- und Randwähler geschaffen, die vom Grunde her gar keine sind oder zumindest waren.
Ein solch wackeliger Zusammenschluss ist aber immer temporärer Natur, denn er eint nur die Ablehnung der ideellen Überhöhung und wird wieder zersplittern. Bis er aber zerbricht, ist es gerade für Extremisten ein leichtes mit ihnen zu jonglieren, wenn sich nicht eine Politik des konstruktiven Pragmatismus in der Mitte findet und die Interessen wieder ausgleicht. Ob diese Balance in Deutschland wieder gefunden werden kann, wird sich zeigen.
Das Tor zu einer neuen Diskussionskultur ist offen
Doch zurück zu unserem Ausgangspunkt. Es ging um ein Lied von 1983 und irgendwelche Chöre in Berlin. Wie passt das nun zur neuen Wirklichkeit? Nun, das Umfeld der Stiftung Humboldt-Forum beschäftigt sich sehr stark mit de- und postkolonialistischen Perspektiven und eine entsprechende Kritik an einem Begriff wie „Oberindianer“ ist daher praktisch unumgänglich.
Ist das noch ein Aufreger oder lediglich für ein paar eifernde Posts gut? Die Dominanz des Postmaterialismus ist vorbei und damit sollten solche Ereignisse auch keine tiefergehende Wirkung mehr entfalten können.
Für eine Demokratie, die vom Wettbewerb der unterschiedlichen Meinungen lebt, kann dies nur positive Folgen haben und doch ist es für viele die sich nun daran gewöhnt haben, schlicht empört zu sein, auch unbequem. Ab jetzt muss, man verzeihe die Schlichtheit der Feststellung, wieder selbst gedacht werden. Der Diskurs ist eröffnet und er benötigt Engagement, um die erstarrten Meinungsverfestigungen zu lösen und die Ränder zu schwächen. Geschieht dies nicht, wird die freiheitlich-demokratische Ordnung immer schwächer werden.
Wir müssen daher wieder um pragmatische Lösungen ringen, die auch aus postmaterialistischen Ansätzen herauswachsen können. Sie gehören zum breiten Spektrum dazu, dominieren dürfen sie, wie andere Ansätze auch, nicht. Die Dosis macht das Gift. Es ist womöglich ein Neustart als Zwangsläufigkeit. Und das ist auch gut so.