Aus West und Ost wächst der Druck auf die Industrie in der Schweiz und Deutschland. Aber es gibt eine bessere Strategie als Abschottung und Subventionen: stärken, was Wohlstand erst ermöglicht.

Ein Strom schlechter Nachrichten vermittelt den Eindruck, als werde Europas Industrie zwischen zwei Blöcken zerrieben. Im Osten: China, die zweitgrösste Volkswirtschaft der Erde. Aus chinesischen Fabriken werden die Weltmärkte geflutet. Nicht mit schlechten Kopien von Fernsehern, sondern mit guten und günstigen Elektroautos, Batterien, Solarzellen, Wärmepumpen und anderen Technologien, die für die Energiewende entscheidend sind.

Im Westen sind die USA, die weltgrösste Wirtschaftsnation. Amerika errichtet eine chinesische Mauer – zur Abwehr der Chinesen. Zölle auf ausländische Produkte und Subventionen für heimische Firmen halten die Konkurrenz aus Fernost vor der Tür. Ob Trump oder Harris: Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnt, könnte die Mauer sogar noch höher bauen.

Verlustängste greifen um sich

Dazwischen liegt Europa, dessen industrielles Herz von Verlustängsten geplagt wird. Deutschland fürchtet um seine heilige Automobilindustrie, Werkschliessungen bei Volkswagen sind kein Tabu mehr. Die Schweiz sorgt sich um die Stahlindustrie. Was davon noch übrig ist, ist nicht mehr rentabel. Auch 60 Prozent des Stahls auf der Welt kommen aus China.

Die Stimmung in der Industrie ist ohnehin schlecht, denn die Auftragslage ist es auch: Deutschland leidet an der Entwöhnung vom billigen russischen Erdgas. Die Schweizer Industrie leidet an der Entwöhnung von Nachfrage aus Deutschland.

So ist es verständlich, dass auch hier nach Schutz und Rettung durch den Staat gerufen wird. Von Nostalgikern, die in einer Welt von Verbrennungsmotoren und Stahlwerken aufgewachsen sind und sich vor einer neuen Welt fürchten. Von Gewerkschaften, die für ihre Klientel weibeln – also für ihre Mitglieder, nicht für die Gesamtheit der Beschäftigten und Arbeitsuchenden. Von Politikern, die vor Werkstoren fotografiert werden wollen.

Selbst bei jenen Unternehmern herrscht Unbehagen, die von freiem Handel und Wettbewerb überzeugt sind. Abhängigkeit macht Angst. Beispiel Solarzellen: In Europa sind inzwischen derart grosse Mengen verbaut worden, dass in einigen Jahren enorm viele Solarmodule erneuert werden müssen. Wenn das marktbeherrschende China dann nicht liefert, bröckelt in der Schweiz und Deutschland das Silizium von den Dächern.

Heimatschutz kostet viel und bringt wenig

Warum sollte China die Lieferung von Solarzellen verweigern? Wirtschaftlich wäre das Irrsinn. Doch in Autokratien herrscht der Primat der Machtpolitik; der freie Güterverkehr steht unter Vorbehalt. Vor dem Ukraine-Krieg wollte sich auch niemand vorstellen, dass Wladimir Putin Erdgas, den wichtigsten russischen Rohstoff, als Waffe gegen Europa einsetzen würde. Man hatte ja Verträge.

Dennoch wäre es ein Fehler, das Heil in erzwungenem Heimatschutz für gewisse Branchen zu suchen. Zunächst aus grundsätzlichen Gründen: Ein Importzoll lässt die Inländer für ausländische Waren mehr bezahlen, als sie müssten. Das soll die Produktion im Inland stimulieren. Doch für diese unrentable Produktion müssen knappes Geld und knappe Arbeit umgeleitet werden, die an Stellen fehlen, wo die Industrie wettbewerbsfähiger ist. Die Volkswirtschaft treibt mehr Aufwand für ein schlechteres Ergebnis.

Auch sind einmal eingeführte Schutzmassnahmen nur schwer wieder rückgängig zu machen. Gut organisierte Partikularinteressen verschaffen sich leicht Gehör, denn sie sind leichter darstellbar als die schwerwiegenden, aber schwerer greifbaren Vorteile der Allgemeinheit. So war es etwa bei den Subventionen für den Kohleabbau in Deutschland: Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, um die Energiesicherheit zu gewährleisten – und hielten sich bis 2018.

Strategische Ausnahmen müssen Ausnahmen bleiben

Doch warum so pauschal? Sollte es nicht protektionistische Ausnahmen für gewisse strategisch wichtige Güter geben, bei denen uns eine gesicherte Versorgung aus dem Inland die hohe Rechnung wert ist?

Zunächst: Notreserven für Extremsituationen gibt es bereits – zum Beispiel in der Schweiz Pflichtlager für Brennstoffe wie Benzin und Medikamente, aber auch für die Industrierohstoffe Polyethylen und Ethanol. Der Bedarf wird laufend evaluiert und angepasst. Dabei sollte man es belassen. Die Schweiz braucht weder eine Stahlreserve noch eine Solarzellenreserve.

Heimatschutz ist Schutz vor Strukturwandel. Nach welchen Kriterien sollen schützenswerte Firmen bestimmt werden? Welche Güter sind systemrelevant und in welchen Mengen? Dem Feilschen würde Tür und Tor geöffnet. Autarkie ist erstens unmöglich und zweitens eine Dystopie, weil sie enorm ineffizient wäre. Ausserdem lässt sich nicht planerisch festlegen, welche Produkte in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen werden.

Stattdessen droht Strukturkonservierung – und je veralteter eine Industrie wird, desto höher muss ihr Schutzwall sein. In ausländischen Märkten greift der Schutz ohnehin nicht, dort fallen die Firmen im Wettbewerb noch weiter zurück. Exportnationen wie Deutschland und die Schweiz schössen sich in den eigenen Fuss.

Auch Chinas Übermacht ist Fehlplanung

Auch der Markt hat eine Antwort auf die Angst vor Abhängigkeit. Die Konzentration der Lieferketten auf China ist nicht gottgegeben: Immer mehr Industriekunden bestehen schon darauf, aus regionalen Quellen versorgt zu werden. Auch Sicherheit ist ein Gut, das bei ausreichender Nachfrage mehr produziert wird.

Ironischerweise ist die heutige Übermacht Chinas in vielen Bereichen ein Ergebnis der Inflexibilität staatlicher Planung. In Peking wurde zwar korrekt erkannt, dass es gilt, den Stellenwert als Industrienation auf Basis zukunftsgerichteter, grüner Technologien auszubauen. Das enorme Ausmass der Produktion erzeugt die Grössenvorteile, die zum Beispiel chinesische Elektroautos günstig machen. China subventioniert die europäische Energiewende.

Doch zugleich waren in China die staatlichen Förderungen so umfangreich, dass die gegenwärtige Wirtschaftsschwäche zu einem grossen Überangebot führte. Diese Mengen drängen nun auf den Weltmarkt. Weil die USA ihren eigenen Heimatschutz betreiben, wird die Flut nach Europa und in die Schwellenmärkte umgeleitet.

Die alten Meister werden die neuen Schüler

Heimatschutz ist nicht gratis: Die Staatsverschuldung der USA dürfte nach offiziellen Schätzungen von derzeit 99 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 116 Prozent im Jahr 2034 ansteigen – und dann weiter wachsen, wenn die heute geltenden Regelungen Bestand haben. Das wird den künftigen Spielraum amerikanischer Politik stark einschränken. Wie wettbewerbsfähig die weich gebettete amerikanische Industrie wirklich ist, wird man erst sehen, wenn der Schutzwall fällt.

Selbst die deutsche Autoindustrie ist gegen die jüngst von der EU beschlossenen Schutzzölle auf chinesische Elektroautos – obwohl sie zu ihrem Vorteil gedacht sind. Denn nun droht Vergeltung aus Peking. Das gefährdet eine Zusammenarbeit, auf die diesmal die europäischen Autobauer angewiesen sind. Sie wissen, wie kurzfristig gedacht Handelskriege sind.

Denn die Vorzeichen haben gedreht. Früher gingen chinesische Unternehmen Kooperationen mit westlichen Produzenten ein, um von ihnen zu lernen. Jetzt haben die Schüler ihre Meister überflügelt – und bei gewissen Technologien, etwa Batterien, müssen die alten Meister von den Schülern lernen. Sonst enden sie im Museum.

Trotzdem lässt sich von den USA lernen

Damit ist klar: Es nützt wenig, wenn Europa, Deutschland oder die Schweiz versuchen, sich zum Bollwerk aufzurüsten, das zwischen den Mühlsteinen China und USA bestehen kann. Stattdessen gilt es, die Agilität zu fördern, um dem Druck auszuweichen. Von den Vereinigten Staaten lässt sich viel lernen – und zwar von Tugenden, welche die grösste Wirtschaftsmacht so stark gemacht haben, bevor der Protektionismus von Donald Trump und Joe Biden einsetzte.

Zu diesen Qualitäten gehört keine lasche, aber eine schlanke Regulierung, die Unternehmen Freiraum gibt und sie nicht mit Bürokratie stranguliert. Wichtig sind hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung, auch von staatlicher Seite. Wenn man schon öffentliches Geld ausgeben will, dann für Schulen, Universitäten und zur ergebnisoffenen Förderung von Innovationen.

Fehlschläge sind dabei unvermeidlich. Es braucht eine Forschungs- und Unternehmerkultur, die Fehlschläge zulässt, ja geradezu ermutigt. Und eine Finanzkultur, die Entrepreneuren mit guten Ideen immer genügend Kapital bereitstellt, um aufzustehen und weiterzumachen.

Es bietet sich eine grosse Chance

Eben weil die Zukunft sich nicht planen lässt, entscheiden in der Wirtschaft Versuch und Irrtum über den Erfolg. Das ist die wichtigste wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates: Er muss ermöglichen, dass Firmen und Forscher genug Versuche unternehmen.

Auch Offenheit und Anreize für die Zuwanderung der klügsten Köpfe gehören dazu, ebenso wie eine gut ausgebaute Infrastruktur. Und ein Interesse an Handelsliberalisierung. Das gilt besonders für die Schweiz, deren winziger Binnenmarkt keine grossen Sprünge zulässt.

Das Frustrierende an diesen Massnahmen ist: Sie sind schwieriger umzusetzen als ein Zoll oder eine Subvention für vermeintlich strategisch wichtige Branchen. Sie laufen dem Zeitgeist diametral entgegen. Sie wirken nicht sofort – dafür aber umso anhaltender. Darin liegt die grosse Chance von Marktwirtschaft und Offenheit. Sie muss nur genutzt werden.