Deutschland bekommt den Fachkräftemangel nicht in den Griff. “Das sollte uns Sorgen machen”, sagt Stepstone-Chef Sebastian Dettmers im Interview mit ntv.de. Zu viele Menschen seien nicht ausreichend qualifiziert für die Jobs von heute und morgen. Mehr und länger arbeiten sei nur eine Notlösung – helfen könne bloß mehr Technologie und eine bessere Bildung.

ntv.de: Wie sieht es gerade auf dem deutschen Arbeitsmarkt aus? In welchen Branchen gibt es die meisten Jobangebote – wer kann sich den Job gerade aussuchen?

Sebastian Dettmers: Wir haben eine interessante Situation. Wenn man sich umhört, bei Nachbarn, Freunden, beim Chef, dann geht es der deutschen Wirtschaft nicht besonders gut. Wir sprechen über Rezession oder zumindest über eine Stagnation. Und was wir normalerweise erleben müssten, wäre eine rapide steigende Arbeitslosigkeit. Das passiert aber nicht. Natürlich hören wir von Entlassungen und die Arbeitslosigkeit steigt auch etwas an, aber wir haben immer noch einen sehr arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt. In bestimmten Bereichen merken wir es extrem, vor allen Dingen in den Gesundheitsberufen. Wer heute Pflegekraft, Arzt oder Ärztin ist, der braucht sich fast keine Gedanken zu machen. Da merken wir, dass es wahnsinnig viele offene Stellen gibt. Das Handwerk sucht. Auch die hochqualifizierten Berufe wie IT-Spezialisten oder Programmierer werden nach wie vor händeringend gesucht.

Wer hat es gerade besonders schwer, einen Job zu finden?

Menschen, die gering qualifiziert sind, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Die machen den Großteil der Langzeitarbeitslosen und auch der Arbeitslosen in diesem Land aus und haben es gerade in solchen konjunkturellen Situationen wie der, in der wir uns jetzt gerade befinden, besonders schwer.

Einerseits gibt es immer mehr Arbeitslose, im September waren es 2,8 Millionen. Andererseits existiert dieser riesige Fachkräftemangel in etwa 200 Berufen. Können Sie uns erklären, woran das liegt?

Es gibt zwei Dinge, die den Arbeitsmarkt treiben. Das eine ist die Konjunktur. Das sind diese kurzfristigen Aufs und Abs. Da gibt es konjunkturelle Boomzeiten, wo es bergauf geht. Das haben wir zum Beispiel 2021 und 2022 gemerkt. Und dann gibt es Krisen. In einer solchen Krise stecken wir jetzt gerade. Das haben wir auch 2020 mit der Pandemie erlebt. Auch 2008, mit der großen Finanzkrise, ging es runter. Und jedes Mal, wenn die Wirtschaft anzieht, werden Jobs geschaffen, dann beschäftigen Unternehmen mehr Mitarbeiter. Und wenn es bergab geht, werden Mitarbeiter entlassen. Das sind die konjunkturellen Trends, deswegen sehen wir jetzt auch gerade, dass die Arbeitslosigkeit etwas ansteigt.

Sebastian Dettmers ist CEO der Online-Jobplattform Stepstone. Sebastian Dettmers ist CEO der Online-Jobplattform Stepstone.

Sebastian Dettmers ist CEO der Online-Jobplattform Stepstone.

(Foto: The Stepstone Group)

Darüber liegt aber ein struktureller Trend. Und der strukturelle Trend ist eigentlich das, was uns viel mehr beschäftigen sollte. Der leitet sich daraus ab, wie viele Menschen im erwerbsfähigen Alter – zwischen 18 und 65 Jahren – in diesem Land leben. Da passiert etwas, worüber wir schon die letzten 20, 25 Jahre gesprochen haben, aber es nie so richtig wahrhaben wollten, nämlich der demografische Wandel. Wir werden immer älter und die Babyboomer scheiden jetzt aus dem Arbeitsmarkt aus. Von unten rücken viel weniger junge Menschen nach. Das sorgt dafür, dass in den nächsten Jahren immer weniger Menschen in Deutschland arbeitsfähig sein werden. Obwohl es der Wirtschaft aktuell nicht so gut geht, sprechen wir von einem Fachkräfte- oder Arbeitskräftemangel.

Der Hauptgrund dafür, dass momentan so viele Fachkräfte in Deutschland fehlen, ist also, dass Millionen Menschen aktuell oder bald in Rente gehen?

Genau. In den nächsten zehn Jahren gehen fünf Millionen mehr Menschen in Rente, als in den Arbeitsmarkt nachrücken werden. Das sind etwa 10 bis 15 Prozent. Das klingt gar nicht so viel. Aber im Sommer 2022 haben wir gemerkt, was passiert, wenn auf einmal so viel weniger Menschen arbeiten. Bei den Fluggesellschaften, an den Flughäfen und in den Restaurants waren über zwei Jahre hinweg keine Mitarbeiter eingestellt worden. Diese Industrien hatten etwa 15 bis 20 Prozent weniger Beschäftigte. Dort hat nichts mehr funktioniert. Genau diese Situation werden wir in zehn Jahren erleben, nicht nur an Flughäfen oder in Restaurants. Man wird keinen Handwerker oder Pflegekraft mehr bekommen. Es wird Probleme geben, wenn wir unsere Kinder in den Kindergarten oder in die Schule bringen wollen. Das sollte uns sorgen. Deswegen müssen wir gegensteuern.

Das ist doch aber schon jetzt längst Realität. Handwerkertermine oder Kitaplätze sind aktuell schwer zu bekommen.

Dass es schon jetzt passiert, sollte uns wirklich Sorgen machen. Das Leben von unseren Eltern und unseren Großeltern war durch zwei Dinge geprägt. Erstens: Jedes Jahr standen mehr Menschen zur Verfügung, die gearbeitet haben. Wenn ein Unternehmen gewachsen ist, wenn die Wirtschaft gewachsen ist, dann konnte sie sich immer darauf verlassen, dass es mehr Menschen gibt. Das Zweite: Wir sind auch immer produktiver geworden. Wir haben mit der gleichen Arbeitsleistung mehr geschafft. Der Grund: Maschinen, Algorithmen, Computer. Und diese Kombination aus mehr Menschen und mehr Produktivität hat dazu geführt, dass die Wirtschaft gewachsen ist, dass die Steuereinnahmen gewachsen sind, dass wir uns all die Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Gesundheitswesen leisten konnten. Mit jeder Generation hat sich der Wohlstand in diesem Land verdoppelt.

Jetzt sind wir an so einer Stelle, wo die Erwerbsbevölkerung nicht mehr wächst. Auch die Produktivität stagniert. Das Wohlstandsniveau in der ersten Jahreshälfte befindet sich ungefähr auf dem Niveau des Wohlstands von 2019. Wir erleben seit fünf Jahren eine Stagnation im Fortschritt. Insofern ist das, was wir im Alltag erleben, das, was wir auch in den Statistiken sehen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat im vergangenen Jahr eine Studie dazu gemacht, warum es gleichzeitig mehr Arbeitslose und auch mehr offene Stellen gibt. Als ein Grund wird die Qualifikation genannt, die oft einfach nicht passt. Bildet Deutschland in den falschen Jobs aus?

Ja, das kann man sagen. Wobei das eine sehr vereinfachte Formulierung ist. Fortschritt bedeutet, es entstehen produktivere Arbeitsplätze. Die Jobs, die es heute gibt und in Zukunft geben wird, sind vor allem hochqualifizierte oder qualifizierte Arbeitsplätze, solche, wofür man eine Berufsausbildung oder ein Hochschulstudium braucht. Es gibt immer noch viel zu viele Menschen, wo wir es als Gesellschaft nicht geschafft haben, sie ausreichend für die Jobs von heute und von morgen zu qualifizieren.

In den Schulen sehen wir das Qualifikationsniveau von morgen. Mit Blick auf die letzten Pisa-Daten stellen wir fest, dass in Mathematik 30 Prozent der 15-Jährigen nur unzureichende Rechenfähigkeiten haben. Ein Viertel der Kinder kann nicht mal auf Grundschulniveau lesen. Ein Bildungsforscher sagt: Das sind Kinder, die wir nicht ausbildungsfähig in den Arbeitsmarkt entlassen. Also mindestens ein Viertel der Kinder. Das ist eine riesengroße Zahl.

Wir sind Industrie- und Exportweltmeister. Das beruht alles auf der Qualifikation von jungen Menschen und unserer Erwerbsbevölkerung. Wenn wir es nicht hinbekommen, das Qualifikationsniveau unserer Kinder und Jugendlichen, aber auch der Menschen, die sich schon im Arbeitsmarkt befinden, weiterzuentwickeln, dann passiert genau das, was Sie gerade beschrieben haben. Dann haben wir einen Arbeitsmarkt, eine Wirtschaft, die sagt, ich brauche hochqualifizierte oder qualifizierte Fachkräfte. Aber ich finde nur ganz viele Menschen, die leider keinen Berufsabschluss haben.

Aufgrund des föderalen Bildungssystems in Deutschland ist eine Reform schwierig, Bildung ist Ländersache. Wie könnte man trotzdem erreichen, dass sich die Qualifikation der Menschen schon von Anfang an auf einem höheren Niveau befindet?

Über dieses Thema zerbrechen sich Bildungswissenschaftler schon seit Jahren und Jahrzehnten den Kopf, spätestens seit der ersten Pisa-Studie. Dabei ist es eigentlich gar nicht so schwierig. Das, worüber ich gerade gesprochen habe, sind nicht irgendwelche komplexen Fähigkeiten. Es geht nicht darum, dass Kinder programmieren können oder fünf Fremdsprachen sprechen. Es muss stattdessen um grundlegende Lese- und Mathematikkompetenzen gehen. Und die Grundlage dafür, dass ich diese Kompetenzen in der Schule erlerne, ist Sprache. Mehr als 40 Prozent der Grundschulkinder in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Wir schaffen es in Deutschland nicht, diese Kinder fit für die Schule zu machen, dafür zu sorgen, dass sie am ersten Schultag vernünftig Deutsch sprechen.

In anderen Ländern wird das besser gemacht. Selbst in den USA ist Englischunterricht schon im Vorschulalter verpflichtend, wenn die Kinder nicht vernünftig Englisch sprechen. Bei uns sprechen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund am ersten Schultag häufig sehr eingeschränkt oder gar nicht Deutsch. Grundschullehrer können nicht auch noch einem Kind eine neue Sprache beibringen, während sie anderen Kindern Rechnen, Lesen und die anderen Fächer beibringen sollen. Da brauchen wir Investitionen.

Eigentlich müsste man also die Integration verbessern.

Absolut. Es geht um die Integration. Wenn wir in einem anderen Land in eine Schulklasse kommen würden, wo eine völlig fremde Sprache gesprochen wird, könnten wir ohne Förderung gut mithalten? In dieser Sprache mit Sicherheit nicht. Insofern ist das eindeutig eine Frage der Integration und des Integrationswillens.

Um das Fachkräfteproblem zu lösen, setzt Deutschland momentan auf Spezialisten aus dem Ausland und Quereinsteiger und lässt Rentner länger arbeiten. Ist das eine gute Idee?

Wir werden weniger Menschen und die Produktivität stagniert. Wenn man die beiden Dinge miteinander kombiniert, bedeutet das nichts anderes als ein Schrumpfen der Wirtschaft. Dann kommt das Rezessionsgespenst. Nicht nur für ein oder zwei Jahre, sondern für viele Jahre. Aus dieser Situation haben wir zwei Lösungswege. Erstens: Wir arbeiten mehr. Das kann natürlich bedeuten, wir arbeiten mehr Stunden die Woche oder mehr Tage. Oder wir arbeiten länger, wir erhöhen das Renteneintrittsalter. Das kann aber auch bedeuten: Es arbeiten mehr Menschen. Wir holen Fachkräfte ins Land, die uns dabei helfen, dieses Problem zu lösen. Oder wir arbeiten smarter. Wir nutzen Technologien, die vorhanden sind. Wir nutzen Maschinen und Roboter besser.

Aber das große Thema heute sind natürlich die Algorithmen und die Künstliche Intelligenz. Wie schaffen wir es, selbst wenn wir weniger Menschen sind, dass wir am Ende des Tages mehr schaffen? Da hinken wir hinterher. Jetzt steht die Künstliche Intelligenz vor der Tür. Wir sprechen fast mehr darüber, wie wir sie regulieren, als wie wir sie dafür gewinnbringend nutzen können, dass wir produktiver werden. Eins von beidem müssen wir tun. Entweder wir arbeiten mehr oder wir nutzen die Potenziale besser, die wir im Inland und Ausland haben. Oder wir arbeiten eben smarter. Und dafür brauchen wir mehr Technologieoffenheit und mehr Bildung.

Griechenland hat wegen des Fachkräftemangels im Juli die Sechs-Tage-Woche eingeführt, durch Zuschläge sollen die Griechen motiviert werden, mehr zu arbeiten. Wäre das auch eine Lösung für Deutschland?

Das kann die Lösung sein, wenn wir nichts anderes geschafft haben. Aber ich möchte erst mal die anderen Dinge ausprobieren. Ich möchte es erstmal schaffen, die Erwerbspotenziale, die brachliegen, in diesem Land besser zu nutzen. Und ich glaube an den Fortschritt. Ich glaube, wir müssen mit viel, viel mehr Technologie und Fortschrittsoptimismus an die Sache rangehen, damit wir tatsächlich nicht auf einmal sechs Tage arbeiten müssen und nicht über eine Rente erst ab 75 Jahren sprechen.

Wie könnte man es schaffen, dass die Menschen besser qualifiziert sind, wären Weiterbildungen die Antwort? Das halten nicht alle für die beste Lösung.

Weiterbildung ist ein ganz elementarer Schritt. In Deutschland haben wir die Tendenz, alte Arbeitsplätze zu erhalten. Stichwort Kurzarbeit. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Unternehmen gerade nicht ausreichend viel zu tun hat. Der Staat sagt: Ich finanziere dir diesen Arbeitsplatz für eine gewisse Zeit, bis du wieder produktiv bist. Das ist eigentlich das falsche Mittel. Das richtige Mittel wäre, diese Menschen weiterzubilden, sie fit zu machen für die Jobs der Zukunft. Da müssen wir wieder reininvestieren. Verschiedene Studien zeigen, dass es viel, viel günstiger ist, Menschen weiterzubilden, als sie mit Umverteilungsmaßnahmen durchzufinanzieren und darauf zu hoffen, dass das schon klappt. Denn es klappt in aller Regel nicht.

Viele Arbeitgeber glauben, ab 50, 55 Jahre sind Mitarbeiter nicht mehr weiterbildungsfähig. Da lohnt es sich eher, sich über eine Frühverrentung Gedanken zu machen. Das halte ich für den völlig falschen Weg. Heutzutage ist jemand mit 60 und vielleicht auch mit 65 Jahren noch topfit, um einen Beruf auszuüben. Vor allem in der Dienstleistungsindustrie.

Wenn jemand 55 Jahre alt ist, warum sollte man so einen Menschen nicht ein halbes Jahr, ein Jahr weiterbilden, fit machen für einen völlig neuen Beruf, der vielleicht auch besser zu der Person und zu den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes passt? Die Person kann später in einem Job arbeiten, der gebraucht wird, der höher produktiv ist, der damit auch besser bezahlt ist. Und natürlich ist es auch besser für uns als Gesellschaft, diese Menschen weiterzubilden und zu beschäftigen, als damit zu leben, dass sie langzeitarbeitslos werden. Nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen sind gefragt, die Scheuklappen abzulegen.

Sie haben gerade von Jobs der Zukunft gesprochen. Welche Jobs sind in der Zukunft relevant oder tauchen vielleicht ganz neu auf?

Zum einen all die Jobs, die aus einer alternden Gesellschaft resultieren. Mit Sicherheit wird es in Zukunft viele Jobs im Gesundheitswesen geben. Nicht nur die Ärzte und Ärztinnen, sondern auch die vielen Pflegeberufe. Sowohl in der Krankenpflege als auch der Altenpflege gibt es Berufe, die hoch im Ansehen stehen. Bei Jobsuchenden, auch bei jungen Menschen. Dort müssen wir die Rahmenbedingungen verbessern, dass diese Jobs attraktiver werden, allen voran in der Pflege.

Auch im Bildungsbereich werden sehr viele Lehrer und Lehrerinnen bald in den Ruhestand gehen. Da brauchen wir unbedingt Nachwuchs. In den sozialen Berufen werden wir Menschen brauchen, diese Tätigkeiten lassen sich auch nicht so leicht durch Maschinen, Roboter und Algorithmen ersetzen.

Dann gibt es die Menschen, die mit Algorithmen, mit Maschinen zusammenarbeiten. Und das sind nicht zwangsläufig die Programmierer, sondern häufig diejenigen, die diese Technologien anwenden. Da gibt es die Industrie, da gibt es die Technologiedienstleister, es gibt auch spannende Berufe in den Naturwissenschaften. Die Pharmaindustrie wird aufgrund der alternden Gesellschaft stark wachsen. Überall dort entstehen hochqualifizierte Arbeitsplätze, dort herrscht schon jetzt Fachkräftemangel. Insofern ist man gut beraten, wenn man in diese Berufe reingeht.

Es gibt auch Berufe, die verschwinden werden. Vor allem die Tätigkeiten, die heute schon oder in absehbarer Zukunft durch Algorithmen ersetzt werden können. Überall dort, wo ich immer das Gleiche mache, Dinge, die Algorithmen schon heute für mich übernehmen könnten. Das betrifft administrative Berufe oder die Buchhaltung. Aber es entstehen auch ganz viele neue Berufe. Diesen Wandel müssen wir aktiv gestalten.

Wenn Sie sagen, es wird in der Zukunft mehr soziale Berufe benötigen und mehr Menschen, die die Algorithmen bedienen – um welche Zeiträume geht es da?

In den nächsten 15 Jahren werden sich ungefähr 30 Prozent der Tätigkeiten verändern. Das heißt nicht, dass 30 Prozent verschwinden und 30 Prozent der Jobs neu hinzukommen. Aber mit diesem Adaptionszyklus rechnen wir. Die sozialen Berufe brauchen wir schon jetzt. Auch in den hochqualifizierten, eher technischen Berufen gibt es heute schon den Mangel.

Sie fordern, dass weniger produktive Jobs ins Ausland verlagert werden sollen. Welche wären das? Sind dann überhaupt noch genug Arbeitsplätze für diejenigen übrig, die nicht so hochqualifiziert oder ausgebildet sind?

Das ist eine Frage, die viel zu wenig diskutiert wird. Der Wohlstand in diesem Land, in Europa, fußt zu einem nicht ganz unwesentlichen Teil auf der Globalisierung. Und die Globalisierung bedeutete in den vergangenen Jahrzehnten, dass sich die deutschen Unternehmen, die deutsche Wirtschaft, auf hochproduktive Dinge fokussiert haben. Dort, wo die Wertschöpfung besonders hoch ist, wo man hohe Gehälter zahlen kann. Viele Vorprodukte wurden nicht in Deutschland gefertigt, sondern kommen aus dem Ausland, wo sich die niedrig qualifizierten Tätigkeiten angesiedelt haben.

Wir sprechen gerade viel über Deglobalisierung und Reshoring, also Tätigkeiten, die wir schon vor Jahrzehnten ins Ausland verlagert haben, zurück nach Deutschland zu holen. Das bedeutet auch, dass wir damit niedrig produktive Jobs zurück nach Deutschland holen. Das ist gefährlich, weil dann der Wohlstand sinkt. Das bedeutet, dass die Menschen, die diese Tätigkeiten ausüben, dann für höher qualifizierte Tätigkeiten nicht zur Verfügung stehen. Deshalb sind wir auf eine globale Arbeitsteilung angewiesen, in der wir versuchen, möglichst hochqualifizierte, hochproduktive Tätigkeiten hier anzusiedeln. Die Automobilbranche hat das jahrzehntelang sehr gut vorgemacht. Auch viele Maschinenbauer, Dienstleister aus der Finanzdienstleistung, aus der Versicherung und dem IT-Sektor. Den Weg müssen wir unbedingt weitergehen.

An eine ganz wichtige Industrie haben wir den Anschluss verpasst: die IT-Industrie. Die großen IT-Innovationen kommen nicht aus Europa, sondern zum größten Teil aus den USA und aus China. In Europa geht der Großteil der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen in den Automobilsektor. In den USA geht der Großteil in Biotechnologien und Hightech-Industrien, also Software und Hardware. Apple zum Beispiel. Es besteht die Gefahr, dass wir den Anschluss wieder verpassen, indem wir die unproduktiven Arbeitsplätze erhalten oder möglicherweise sie wieder ansiedeln.

Hilft es, wenn Deutschland auf Chipfabriken setzt, wie sie Intel in Magdeburg geplant hatte? Oder müsste man mehr eigene Unternehmen oder Startups in dieser Branche fördern?

Solche Industrien entstehen nicht durch einzelne Unternehmen auf der grünen Wiese, sondern durch sogenannte Cluster. Ein Cluster ist eine Kombination von bestimmten Dingen in einer Region. Erstens gute Bildungseinrichtungen. Typischerweise sind die wirtschaftlich am erfolgreichsten Gegenden dort, wo ich gute Schulen und Universitäten habe. Dann siedeln sich dort Forschungsinstitute und Unternehmen an. Ich schaffe auf einem kleinen Raum einen Ort mit sehr viel Kompetenz, wo sehr, sehr viele Menschen sind, die in unterschiedlichen Einrichtungen sowohl in der Bildung, in der Forschung als auch in den Unternehmen zusammenarbeiten.

Das beste Beispiel für ein solches Cluster ist das Silicon Valley. Das ist ein Magnet für talentierte Menschen aus der ganzen Welt, die entweder bei einer der großen Technologiefirmen arbeiten möchten oder dorthin gehen, um ein Unternehmen zu gründen. Genau solche Cluster brauchen wir auch. In Heilbronn entsteht gerade sehr viel rund um Künstliche Intelligenz, getrieben nicht so sehr vom Staat, sondern durch ein dort ansässiges Unternehmen. Dort herum entwickeln sich ein Cluster und eine sehr wohlhabende Stadt. Davon brauchen wir viel, viel mehr.

Mit Sebastian Dettmers sprach Caroline Amme. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Vollständig können Sie es im ntv-Podcast “Wieder was gelernt” anhören.

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